Julian Nida-Rümelin entlarvt den „Akademisierungswahn“

Julian Nida-Rümelin entlarvt den „Akademisierungswahn“
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Stand: 18.09.2015

Er hatte sich für den Abend viel vorgenommen: „Ich werde heute einige Legenden zerstören“, versprach Prof. Dr. Julian Nida-Rümelin beim Wirtschaftsforum Impulse der Industrie- und Handelskammer (IHK) Mittlerer Niederrhein und der Rheinischen Post. Der Philosoph und Bildungsexperte forderte: „Stoppt den Akademisierungswahn!“ IHK-Präsident Heinz Schmidt stimmte die rund 250 Gäste in der Krefelder Niederlassung von Mercedes-Benz Rhein-Ruhr auf das Thema des Abends ein: „Unsere Wirtschaft brummt, und die Arbeitslosigkeit ist auf dem niedrigsten Niveau seit der Wiedervereinigung, aber wir haben eine Achillesferse: Wir werden wie kein anderes Land vom demografischen Wandel betroffen sein.“ Vor diesem Hintergrund sei eine bedarfsgerechte Ausbildung für Deutschland von entscheidender Bedeutung. „Und da befürchte ich, dass wir auf dem Holzweg sind“, so der IHK-Präsident.

Um diesen Eindruck zu bestätigen, war Nida-Rümelin angetreten: „Die Bildungsdebatte ist sehr einseitig.“ Als höchste Form der Bildung werde allein das Studium gepriesen. Angeblich verdienten Akademiker mehr und seien weitaus seltener von Arbeitslosigkeit betroffen als Nicht-Akademiker. Die „Propaganda“ der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), die von Deutschland regelmäßig einen höheren Akademikeranteil fordert, habe ihre Wirkung nicht verfehlt. So habe sich die baden-württembergische Landesregierung eine Studiumabsolventenquote von 50 Prozent auf die Fahne geschrieben. „Was bleibt da noch für die duale Berufsausbildung?“, fragte Nida-Rümelin.

„Gegen den Wahn helfen nur Fakten und logisches Denken“, erklärte der Philosoph und führte den Gästen des Forums vor Augen, dass ein großer Anteil von Akademikern nichts mit dem wirtschaftlichen Erfolg eines Landes zu tun hat: So kann sich Deutschland mit einer Akademikerquote von 17 und einer Jugendarbeitslosigkeit von 8 Prozent sehen lassen: So weist beispielsweise Großbritannien einen 31-prozentigen Anteil von Akademikern und einer Jugendarbeitslosenquote von 21 Prozent auf.
Deutschland sei mit Südeuropa, Frankreich, Skandinavien und den angelsächsischen Ländern kaum vergleichbar. Mittelständische Familienunternehmen und das verarbeitende Gewerbe spielten hier eine weitaus größere Rolle. „Nicht-Akademiker bilden bei uns den größten Teil der Mittelschicht – anders als etwa in den USA und Großbritannien“, erläuterte der Referent. „Auch die These, dass Hochschulabsolventen mehr verdienen als andere Arbeitnehmer, ist ein Mythos. Das Gegenteil ist oft der Fall.“

Dennoch ist der Run auf die Hochschulen ungebrochen. Allein von 2006 bis 2011 sei die Zahl der Studienanfänger um 54 Prozent gestiegen. Nida-Rümelin: „Diese Verschiebung geht natürlich zu Lasten der beruflichen Bildung.“

Gleichzeitig leide allerdings auch die akademische Bildung. Immer mehr Studienanfänger seien schlicht überfordert. Die Abbrecherquote steige und steige. Das Leistungsniveau des Abiturs und der Studiengänge sinke dagegen kontinuierlich. „So ruinieren wir unsere akademische Bildung und den guten Ruf des deutschen Ingenieurs“, warnte Nida-Rümelin, der sich zum Abschluss seines Vortrags doch optimistisch gab: „Wir steuern nicht zwangsläufig auf eine Bildungskatastrophe zu.“ Es gebe Stellschrauben: Die Universitäten sollten die Abbrecherquote durch Eignungsprüfungen senken, und die Berufsschulen sollten gestärkt werden. „Es geht auch um eine Kultur der Anerkennung, Akademiker und Nicht-Akademiker sollten sich gegenseitig mehr respektieren“, appellierte der Gastredner. Auch die Unternehmer seien gefordert: „Gehen Sie in die Schulen, werben Sie für die duale Berufsausbildung!“

Bildunterschrift: Prof. Dr. Julian Nida-Rümelin ist überzeugt: „Eine hohe Akademikerquote ist kein Garant für den wirtschaftlichen Erfolg eines Landes.“