Gregor Gysi zu Gast bei „Klartext“:

© IHK Mittlerer Niederrhein

Diese Meldung stammt aus dem Archiv und ist möglicherweise nicht mehr aktuell.

Stand: 13.09.2022

Dr. Gregor Gysi begleitet die deutsche Politik seit fast 50 Jahren. Er hat Erfahrungen in zwei Systemen gesammelt – als Mitglied der Volkskammer der DDR und des Deutschen Bundestags, in dem er für DIE LINKE sitzt. „Ich freue mich auf einen eloquenten Redner, der seine Sicht auf Wirtschaft, Gesellschaft und Wirklichkeit präsentiert. Eine Sicht, die sehr wahrscheinlich von meiner abweicht. Und das ist gut so. Weil das den Impuls gibt, die Welt aus anderen Augen zu sehen, und dazu führt, seine eigenen Vorstellungen zu hinterfragen“, sagte Elmar te Neues, Präsident der Industrie- und Handelskammer (IHK) Mittlerer Niederrhein, zur Begrüßung der rund 200 Gäste der Veranstaltung „Klartext“. Zusammen mit der Unternehmerschaft Niederrhein und der Sparkasse Neuss hatte die IHK Dr. Gysi ins S-Forum eingeladen, um mit ihm der Frage nachzugehen, welche Zukunft die Wirtschaft hat, und seine Thesen für eine moderne Wirtschaftspolitik zu hören.

Denn neue Ansätze werden heute mehr denn je gebraucht, wie der Begrüßungstalk zeigte: Der Fachkräftemangel, die Corona-Krise, der Strukturwandel und die Lieferketten-Probleme seien immense Herausforderungen für die Unternehmen in der Region, berichtete te Neues. „Die Wirtschaft kämpft mit den Folgen der Corona-Krise und des russischen Kriegs gegen die Ukraine“, ergänzte Ralf Schwartz, Vorsitzender der Unternehmerschaft Niederrhein. „Wir stehen zu unserer Zusage, dass Wirtschaft und Politik hier an einem Strang ziehen, bekommen durch sinnlos auferlegten Bürokratismus aber immer wieder Steine in den Weg gelegt.“ Bestes Beispiel dafür sei das neue Lieferkettengesetz. „Dass wir unseren unternehmerischen Sorgfaltspflichten nachkommen müssen, steht außer Frage. Jedoch braucht es Richtlinien für ein mittelstandsfreundliches ‚Wie?‘.“ Und Marcus Longerich, Mitglied des Vorstands der Sparkasse Neuss, betonte, dass zwei große Zukunftsthemen bei allen Problemen nicht vergessen werden dürfen: „Digitalisierung und Nachhaltigkeit – beides treibt unsere Geschäftskunden um.“

Dr. Gregor Gysi lieferte in seinem kurzweiligen, mit zahlreichen Anekdoten gespickten Vortrag keine einfachen Lösungen für all diese sich „zuspitzenden und sich überlagernden Krisen“, aber spannende Ansätze, wie der Staat Rahmenbedingungen schaffen kann, die vor allem den Mittelstand in Deutschland stützen könnten. „Die jetzige Situation zeigt, dass die Orientierung am neoliberalen Kapitalismus falsch war“, sagte Gysi. „Privatisierung und Markt können nicht alles richten, die Politik muss Verantwortung für die öffentliche Daseinsvorsorge übernehmen, zum Beispiel für das Thema Wohnen.“ Gewinnstreben sei in Ordnung, aber es dürfe nicht „das Ordnungsprinzip der Gesellschaft sein“. Internationale Konzerne entzögen sich dem Primat der Politik, zahlten keine angemessenen Steuern, „deshalb wird in Deutschland alles von der Mitte finanziert“.

Gysi, der sich selbst als „demokratischen Sozialisten“ bezeichnet, stellte dar, was der Kapitalismus aus seiner Sicht kann: „Er kann eine Top-Wirtschaft, eine Top-Wissenschaft sowie spannende Kunst und Kultur hervorbringen. Er kann demokratisch und freiheitlich sein – muss es aber nicht, wie China eindrucksvoll beweist.“ Er könne aber keinen Frieden sichern, weil durch Krieg zu viel Gewinn entstehe, er sei nicht ökologisch nachhaltig und nicht sozial gerecht, weil sich Reichtum immer bei einigen wenigen konzentriere. „Deswegen sollten wir das am Kapitalismus überwinden, was er nicht kann.“

An erster Stelle stehe für ihn die soziale Frage. 38,5 Prozent der erwachsenen Deutschen lehnten die Politik aller Parteien komplett ab. „Da sitzt ein tiefes Misstrauen, das uns Sorgen machen muss“, mahnte Gysi. „Wir müssen die Mitte der Gesellschaft stärken, indem wir den Mittelstand stärken, der die größte Steuerlast trägt und die meisten Arbeitsplätze schafft. Niemand darf vergessen werden, nicht die Soloselbstständigen, nicht die Freiberufler, nicht die kleinen Betriebe.“

Konkrete Ideen lieferte Gysi in der anschließenden Diskussion mit dem Publikum – und alle würden den Staat stärker in die Pflicht nehmen: Beim Thema Lieferkettensorgfaltsgesetz schlug er beispielweise vor, dass der Staat die erforderlichen Informationen recherchieren und den Unternehmen bereitstellen müsse. Um Planungs- und Genehmigungsprozesse zu beschleunigen, solle das Recht gedreht werden: Wenn ein Unternehmen einen Antrag bei einer Behörde stelle, müsse diese in einer gesetzlich festgelegten Pflicht umfänglich antworten, sonst gilt der Antrag automatisch als genehmigt. „Es geht darum, nachzudenken und neue Wege zu gehen“, so Gysis Resümee. 

Bildunterschriften:
Gysi: Dr. Gregor Gysi lieferte in seinem kurzweiligen, mit zahlreichen Anekdoten gespickten Vortrag spannende Ansätze, wie der Staat Rahmenbedingungen schaffen kann, die vor allem den Mittelstand in Deutschland stützen könnten. Foto: IHK

Gruppe: „Klartext“-Gast Dr. Gregor Gysi (M.) und Moderator Martin Kessler (r., Leitender Redakteur Politik bei der Rheinischen Post) mit den Initiatoren der Veranstaltung (v.l.) Ralf Schwarz (Vorsitzender der Unternehmerschaft Niederrhein), IHK-Präsident Elmar te Neues, IHK-Hauptgeschäftsführer Jürgen Steinmetz, Kirsten Wittke-Lemm (Hauptgeschäftsführerin der Unternehmerschaft Niederrhein) und Marcus Longerich (Mitglied des Vorstands der Sparkasse Neuss). Foto: IHK